Schule kann auch anders sein

Beatenberg (Schweiz). Lernjobs, Lernsteps, Lernunits, Lerncoach, Lernteam… Klar doch, hier geht es rund ums Lernen. Geht´s doch immer, wenn die Schule zum Thema gemacht wird. Und doch funktioniert im Institut Beatenberg offensichtlich einiges ganz anders. Sonst würde diese inzwischen seit 70 Jahren existierende und aus einem Kinderheim (die Schauspielerin Christiane Hörbiger war die berühmteste Bewohnerin) hervorgegangene Privatschule nicht bevorzugtes Pilgerziel zahlreicher Lehrer, Schul- und Unterrichtsentwickler sein. Über die Landesgrenzen hinaus bekannt geworden ist die als Internat geführte Schule durch ihren Leiter Andreas Müller, der mit seinen lesenswert-provokanten Büchern („Mehr ausbrüten, weniger gackern“ und „Die Schule schwänzt das Lernen“) die Bildungslandschaft aufschreckt.

 

So aufgeschreckt machen wir uns auf den langen Weg ins im Berner Oberland (Schweiz) gelegene beschauliche Bauerndorf und werden von Andreas Müller begrüßt. Sein Hauptanliegen: Menschen sich entwickeln lassen. Und das funktioniert für ihn nicht im Gleichschritt, da jeder Mensch einzigartig ist. Jeder Jugendliche arbeitet daher an seiner eigenen Kompetenzbaustelle. Aufgabe der Lehrer, die hier als Lerncoaches bezeichnet werden, ist es, die jungen Menschen auf diesem möglichst erfolgreichen Entwicklungsweg zu begleiten und zu unterstützen. Überhaupt: Erfolg. Dazu gibt es für Andreas Müller und sein Team keine Alternative. Die Jugendlichen sollen „fit for life“ werden. Die Zutaten: Zunächst eine lebensnah erworbene Fachkompetenz. Außerdem sollen die Jugendlichen das eigene Lernen verstehen und gestalten können. Und schließlich geht es um einen konstruktiven Umgang mit sich und anderen.

 

Um das gleichzeitig zu ermöglichen gibt es im Institut Beatenberg drei große organisatorische Bereiche: einen offenen, einen strukturierten und einen Wahlbereich. Der wichtigste und mit über 50 Prozent zeitlich umfangreichste ist der offene Bereich. In einem freundlich gestalteten Großraumbüro hat jeder seinen eigenen Lernplatz und arbeitet an seinen persönlichen Zielen und Lernaufgaben. „Das ist aber keine irgendwie insolierte Angelegenheit. Im Gegenteil. Die Devise heißt voneinander und miteinander lernen“, stellt Andreas Müller richtig. Hier haben die Jugendlichen auch die Möglichkeit, sich gegenseitig zu beraten und sich mit Ihrem immer präsenten Lerncoach auszutauschen. Aber: „Pssst! Leise.“ Es herrscht gelebte Flüsterkultur. So werden auch wir ermahnt, uns an diese Flüsterregel zu halten, als uns die 15-jährige Anja sehr kompetent und freundlich ihre fein säuberlich in einem Aktenordner gesammelten Lernunterlagen vorstellt. Darin befinden sich attraktiv und animierend gestaltete und von Anja bearbeitete Lern-Arrangements, aber auch Zertifikate von Kurzpraktika, Wochenpläne, Selbst- und Fremdbeurteilungen unterschiedlicher Art… alles kleine Meilensteine der persönlichen Entwicklung. Mindestens einmal wöchentlich bespricht sie ihre Ergebnisse mit ihrem Lerncoach und es dauert nicht mehr lange, dann wird sie eine Ausbildung als Erzieherin beginnen.

 

Der strukturierte Bereich erinnert uns am ehesten an normalen Unterricht. Französisch, Mathematik, Deutsch und Englisch sind die doppelstündigen Kernfächer in drei bis vier altersunabhängigen Niveaugruppen. Wir schauen bei Andreas Müller vorbei. Deutsch auf dem Niveau 2. Er beginnt mit einem Kurzdiktat, dann folgen eine kleine Logikaufgabe und Schülerfragen zum letzten Wochenauftrag. Schwups, schon wird die nächste Wochenaufgabe zum Thema „Das erwartet die Wirtschaft von Auszubildenden“ präsentiert, verteilt, besprochen und mit dem Bearbeiten begonnen. Als Produkt soll jeder Schüler einen Flyer erstellen.

 

An jedem Nachmittag können die Schüler aus einem Menü an Wahlpflichtkursen wählen, die die sportlichen, kreativen, musischen, naturwissenschaftlichen und handwerklichen Interessen berücksichtigen, aber auch auf einen Beruf oder die Prüfung einer weiterführenden Schule vorbereiten. Dieser normale Wochenrhythmus wird in Beatenberg oft um projektähnliche „Specials“ von hohem Erlebniswert bereichert. Sie ziehen sich wie ein roter Faden durchs Schuljahr. In dieser Woche geht es um "Sicherheit und Gesundheit".

 

Jeder Jugendliche hat so seine eigene Schule in der Schule. Gleichgeschaltete Jahrgangsklassen kennt Beatenberg nicht. Die zwischen elf und siebzehn Jahre alten Jugendlichen kooperieren sowohl altersgleich als auch -gemischt. Und der Leistungsstand wird nicht mit Ziffernnoten, sondern mit Hilfe von Kompetenzrastern („Ich kann…“) dokumentiert. Diese Kompetenzraster zeigen, was der Jugendliche bereits kann und geben gleichzeitig einen Überblick darüber, was er noch so können könnte. 

 

Wo kommen die 45 Jugendlichen her, die diese Schule besuchen? Wir sind erstaunt, als uns Andreas Müller aufklärt, dass es „nicht die Kinder der Schönen und Reichen" sind, sondern solche, die einfach mit dem Lernen in einer normalen Schule nicht klar kamen.

 

Unsere kurzweilige Besuchswoche geht viel zu schnell zu Ende. Nun sitzen wir wieder im InterCity von Interlaken nach Bremen, blättern im druckfrischen Müller-Buch „Können die wo fertig sind früher gehen?“ und fragen uns, wieso nicht jede Schule ein „Institut Beatenberg“ ist. Schule kann eben auch ganz anders sein.